Geschichte vermitteln. Außerschulische Lernorte in der Reflexion

Geschichte vermitteln. Außerschulische Lernorte in der Reflexion

Organisatoren
KGD-Arbeitskreis "Museen und Gedenkstätten"; Universität Innsbruck
Ort
Innsbruck
Land
Austria
Fand statt
Hybrid
Vom - Bis
05.09.2023 - 06.09.2023
Von
Andreas Wieser, Institut für Fachdidaktik, Leopold-Franzens-Universität Innsbruck

Die Tagung des KGD-Arbeitskreises „Museen und Gedenkstätten“ 2023 ermöglichte den Austausch und die Diskussion zu bereits etablierten und neuartigen Zugängen zum historischen Lernen an außerschulischen Lernorten. Der Fokus wurde auf innovative Vermittlungsmethoden und aktuelle Herausforderungen der Geschichts- und Kulturvermittlung gelegt. Die Vortragenden stammten nicht nur aus der Geschichtsdidaktik, sondern auch aus der Museumspädagogik, der sich etablierenden Archivdidaktik und aus der Vermittlung der Archäologie.

ANDREAS SOMMER (Weingarten) eröffnete die Tagung und problematisierte die Marginalisierung der Ur- und Frühgeschichte in den österreichischen und deutschen Schulcurricula. Am Beispiel des Petersfelsen im Brudertal bei Engen zeigte er das Potential eines bewusst genutzten Raumgefüges ausgelöst durch Alteritätserfahrungen vor Ort auf, indem die Natur auch als Teil der Menschheit und der Kultur gesehen wird. Ganz zentral wären seiner Ansicht nach makrohistorische Reflexionsperspektiven, die die Menschheit in diesem Sinne als Ganzheit fokussieren und die Werdung des Menschen in den Blick nehmen. Dadurch könne die Orientierungskompetenz gefördert werden. Vielfach bisher vernachlässigte Lernorte der Ur- und Frühgeschichte weisen dasselbe Potential auf wie bisher etablierte Lernorte.

MARTIN BERGHANE (Bramsche-Kalkriese) zeigte andere Potentiale von frühgeschichtlichen bzw. antiken Perspektiven auf, nämlich indem Fundstücke auf neue Weise kontextualisiert werden: Ein im Museum & Park Kalkriese gefundener Brustpanzer steht im Mittelpunkt der Vermittlung im Rahmen der Sonderausstellung „COLD CASE – Tod eines Legionärs“, indem die Genese von Geschichte anhand des Fundstückes den Besuchenden nahbar wird. Zentral dabei ist ein Aufzeigen diverser Restaurierungsschritte, das Einordnen zwischen anderen synchronen und diachronen Fundstücken sowie die daraus entstehende Interpretation und „Erzählung“ von Geschichte. In diesem Entstehungsprozess wird die Spannung zwischen Erklärungssystemen und dem noch unerklärten Objekt deutlich. Ein Hörspiel, bei dem das Fundstück eine sog. „Zeitreise“ erfährt, ermöglicht auch Kindern eine frühe Aneignung geschichtstheoretischer Überlegungen. Im Vordergrund der Vermittlung steht die Offenheit des Forschungsprozesses und die Unerreichbarkeit einer „absoluten Wahrheit“.

In der Folge beschrieb DANIEL HAUMER (Innsbruck) Universitätssammlungen und -museen als bedeutsame Lernorte, da dort die Wissenschaft direkt auf das Publikum von Vermittlung trifft. Durch die Teilnahme an verschiedenen landes- und bundesweiten Veranstaltungen kann die Universität jene Bevölkerungsteile erreichen, welche sich ansonsten nicht mit dieser Form der Bildungsinstitution oder Wissenschaft generell auseinandersetzen. Eine laufende Anpassung der Vermittlungsprogramme an durch Studien ermittelte aktuelle Bedürfnisse der Besucher:innen sei Haumer zufolge notwendig. Der Dialog basierend auf bereits vorhandenem Wissen wurde von ihm als Hauptmethode der Vermittlung präsentiert.

In der Sitzung des KGD-Arbeitskreises besprachen die Mitglieder Strukturen und Entwicklungsmöglichkeiten des Arbeitskreises sowie potenzielle Themen für zukünftige Tagungen. Der Besuch des Tiroler Volkskunstmuseums und der Hofkirche in Innsbruck ermöglichte den Tagungsteilnehmer:innen eine geschichtsdidaktische Metaführung durch die Leiterin der Kulturvermittlung der Tiroler Landesmuseen Katharina Walter.

VERENA ECKHART (München) präsentierte eine ortsunabhängige und interdisziplinäre Vermittlungsvariante durch sogenannte MusPads, welche aus den durch Corona eingeschränkten Partizipationsmöglichkeiten heraus entwickelt worden waren. Durch die Verwendung vielfältig nutzbarer digitaler Medien können außerschulische Lernorte in räumlicher Distanz zum eigentlichen Lernort genutzt werden, sollen aber in keiner Weise, so Eckhardt, die Lernorte ersetzen, sondern vielmehr eine sinnvolle Ergänzung bieten. Schüler:innen haben so Zugriff auf museale Inhalte wie Exponate, Archivalien, Videos, Audios und Gespräche mit Expert:innen der jeweiligen Felder. Hierbei kann eine Vielzahl an Museen und Depots gleichzeitig einbezogen werden. Eine Entwicklungsmöglichkeit sah Eckhardt darin, mit den Schüler:innen selbstständig MusPads zu entwickeln. Eine Problematik, welche Eckhart hervorhob, sind die notwendigen Fortbildungen und Erklärfilme im Rahmen der Buchung und Nutzung der MusPads.

Dem immer größer werdenden Problem der versterbenden Holocaust-Zeitzeug:innen als wichtige Quelle widmeten sich HERTA NEISS / LISA MARIA HOFER (Linz): Im Rahmen des sogenannten „Zirkus des Wissens“ der Johannes-Kepler-Universität Linz wurde ein teilpartizipatives Theaterstück entwickelt, um das Leben von Zeitzeug:innen dem Publikum vermitteln zu können. Durch die so entstehende Verbindung von Kunst, Wissenschaft und Bildung könne auch ohne lebende Zeitzeug:innen die emotionale Dimension adressiert werden. Bei dieser Art der Vermittlung sei jedoch eine gut ausgebildete De- und Re-Konstruktionskompetenz bei den Schüler:innen zentral, um diese Darstellung entsprechend entschlüsseln zu können. Für eine effiziente Nutzung eines solchen Theaters für historisches Lernen benötige es somit einer aufwendigen Vor- und Nachbereitung inklusive einer theatertheoretischen Grundlage.

Einen didaktisch noch wenig erforschten Lernort zeigte JAN MATTHIAS HOFFROGGE (Münster) mit dem Archiv auf: Er hob hervor, dass das Archiv meist erst im Erwachsenenalter aufgesucht wird, obwohl es diverse Zugänge zum historischen Lernen für alle Altersstufen böte. Aktionen wie der „Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten“ versuchen Kinder und Jugendliche zwar bereits zu motivieren, doch ist das Archiv als Lernort in der Schule noch nicht präsent genug. Zudem findet Vermittlung bisher im seltensten Falle durch eigene Archivpädagog:innen statt, vielmehr ist sie Teil des Berufsbildes eines Archivars oder einer Archivarin, der bzw. die in der Folge für Ausstellungen, Materialien, Führungen, Themenbesuche und Beratung zuständig ist. Die Bildungsarbeit am Standort Archiv sollte Hoffrogge zufolge jedoch eigens im Sinne einer Archivdidaktik konzeptioniert werden, da das Archiv bisher nicht als außerschulischer Lernort behandelt wurde. Es gelte somit ein Umdenken in der Betrachtung von Archiven und deren Potenzialen auch im schulischen Umfeld anzustreben: Ein Archiv kann historische Bildungsarbeit leisten, sofern bisherige Vorstellungen von Archiven abgebaut werden und sie vielfältiger entsprechend ihren Potentialen genutzt werden.

CHRISTOPH KÜHBERGER (Salzburg) legte den Fokus seines Vortrages auf die hawaiianische Kultur und welche Bedeutung außerschulische Lernorte für die künstliche Renaissance derselben haben. Nach Wellen der Kolonialisierung und der damit einhergehenden Unterdrückung kultureller Praktiken kam es zu zwei hawaiianischen Renaissancen, wodurch Sprache, Handwerk, Kultur und Geschichte neu gefunden und teilweise erfunden werden mussten. Teil der lokalen Bildung ist ein tiefer Kontakt mit der Natur durch Arbeit auf den Feldern und bei Fischteichen im Sinne eines hollistischen Ansatzes. Wenn somit historische Praktiken vor Ort angeeignet werden, stellt sich die Frage des Beitrags zur Domäne „Geschichte“. Kühberger stellte fest, dass es zu keinen zeitlichen Bezügen zur Ancient Hawaiian History käme und es sich somit um ein kulturelles Lernen handle, historisches Lernen an sich werde ausgespart. Es komme vielmehr zu einer „Neukonzeption des ‚Umgangs mit Vergangenheit‘ (dealing with the past)“ durch Gegenwartsbezüge und Orientierungsangebote.

Der Herausforderung der Schaffung eines neuen außerschulischen Lernortes und der entsprechenden Konzeptionalisierung widmete sich MICHAEL HAMMER (Graz) in Bezug auf die Gründung eines außerschulischen Lernraumes der jüdischen Geschichte der Stadt Güssing. Dabei hob er die Besonderheit des Friedhofes als einen solchen Lernort hervor, wobei zentral die Frage im Raum steht, wie dieser möglichst respektvoll gebildet werden könne. In seinen Ausführungen unterstrich Hammer, dass Friedhöfe nicht per se Lernorte seien, sondern erst als solche vermittelt werden müssten. Hierfür benötige es Quellen, Darstellungen und Narrationen, wie etwa Biografien, um die am Friedhof bestatteten Personen zu kontextualisieren. Hammer empfahl eine modulare Didaktisierung, welche die Geschichte des Judentums der Region, die Geschichte der jüdischen Gemeinde vor Ort, den Holocaust, die Spuren des Judentums nach 1945 und schlussendlich auch den Umgang mit diesen Spuren berücksichtigt werden. Bei der Erstellung eines solchen Konzepts und dem damit verbundenen Umdenken der Bevölkerung vor Ort verwies Hammer auf diverse Probleme mit den zwischenzeitlich vor Ort etablierten Einrichtungen.

FREYA KUREK (Köln) sprach über die Gedenkstättenpädagogik und die damit verbundenen aktuellen Herausforderungen. Sie betonte, dass auch kleine Gedenkstätten wesentlich zur Erinnerungskultur beitragen. Dies geschehe, so Kurek, zuweilen unter prekären Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen, da es noch keine eigenständige bzw. etablierte Gedenkstättenpädagogik und keine dazugehörige zertifizierte Ausbildung gibt. Auch ist der politische, gesellschaftliche und normative Druck auf Holocaust-Gedenkstätten besonders hoch; so gibt es die Erwartungshaltung, dass ein kurzer Besuch einer solchen Gedenkstätte bereits eine große, direkte Wirkung auf das Demokratieverständnis und Verhaltensweisen in Bezug auf die Menschenrechte haben. Dem entgegen stehen formulierte Bildungsziele wie die Vermittlung von Geschichte vor Ort entsprechend einem außerschulischen Lernort, aber auch ein Hinterfragen eigener Einstellungen und Haltungen. Auf Basis vielfältiger Anforderungen an Gedenkstättenpädagog:innen sei eine Professionalisierung notwendig, welche nicht nur Wissen und Kompetenzen umfasst, sondern auch die eigenen Wirkungsmöglichkeiten betont. Hierfür brauche es auch bei zukünftiger Forschung eine Auseinandersetzung mit Akteur:innen von Gedenkstätten, um die Bedürfnisse und Herausforderungen der Gedenkstättendidaktik bestmöglich bewältigen zu können.

Die Tagung zeigte diverse Potentiale aber auch noch offene Stellen und Probleme der Vermittlungsarbeit an verschiedenen außerschulischen Lernorten für den Geschichtsunterricht auf. Sie ermöglichte eine Vernetzung der Gedenkstättenpädagogik und der Archivdidaktik mit der Geschichtsdidaktik. Die präsentierten Konzepte zeugten von Innovation und bilden bereits eine moderne Kulturvermittlung ab bzw. versuchen darauf hinzuarbeiten.

Konferenzübersicht:

Panel I: Ur- und Frühgeschichte
Moderation: Jakob Arlt (Potsdam)

Andreas Sommer (Weingarten): Lernorte der Ur- und Frühgeschichte: Übersehene Potentiale historischen Lernens

Martin Berghane (Bramsche-Kalkriese): Plastische Geschichtstheorie. Vermittlungspotentiale einer archäologischen Ausstellung

Daniel Haumer (Innsbruck): Universitätsmuseum und Universitätssammlungen als außerschulische Lernorte am Beispiel des Archäologischen Universitätsmuseums Innsbruck

Sitzung des KGD-Arbeitskreises: Fragen der Organisation und Weiterentwicklung

Panel II: Praxis-Reflexion
Moderation: Christine Gundermann (Köln)

Verena Eckardt (München): Geschichtsvermittlung – digital, interdisziplinär und partizipativ. MusPads als Raum für selbstbestimmtes Lernen und Demokratiebildung im schulischen Kontext

Herta Neiß (Linz) / Lisa Maria Hofer (Linz): Die Fenster zur Vergangenheit öffnen. Das Thema Holocaust ohne Zeitzeug∗innen vermitteln

Jan Matthias Hoffrogge (Münster): Das Archiv und die Geschichtsdidaktik – Anknüpfungen, Umsetzungen und Desiderate

Panel III: Lokalgeschichte
Moderation: Heike Krösche (Innsbruck)

Christoph Kühberger (Salzburg): Über Schlamm, Steine und Blätter. Heritage Learning als historisches Lernen auf Oahu

Michael Hammer (Graz): Die Gründung eines außerschulischen Lernraumes zur jüdischen Geschichte der Stadt Güssing

Freya Kurek (Köln): Gedenkstättenpädagogik vermitteln. Was braucht es für eine zeitgemäße historisch-politische Bildung an Gedenkstätten?

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Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
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